Die Rolle anti-kurdischer Sprachgewalt bei den verheerenden Folgen durch das 2023 Erdbeben
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von Raman Salah
Eine Auswirkung von Linguizid - der kalkulierten Auslöschung einer Sprache - besteht darin, dass in Zeiten von Katastrophen und Notfällen staatliche Reaktions- und Hilfsmaßnahmen wie wichtige Informationen und Hilfsangebote nicht jener Sprache zugänglich sind, die viele der am stärksten von der Katastrophe betroffenen Menschen verstehen können.
Diese Tatsache wurde im Februar 2023 deutlich, als die Türkei und Syrien von einem Erdbeben der Stärke 7,8 erschüttert wurden, bei dem mehr als 50.000 Menschen ums Leben kamen und Hunderttausende obdachlos und in Zelten und anderen provisorischen Unterkünften untergebracht wurden. Ein weiteres Beben der Stärke 7,5 ereignete sich später am selben Tag.
Laut Berichten von Forschungseinrichtungen und Menschenrechtsorganisationen waren die verheerenden Auswirkungen der Beben jedoch nicht gleichermaßen zu spüren. Beide Beben ereigneten sich in unmittelbarer Nähe zu kurdischen Städten. Die vom Erdbeben am stärksten betroffene Gebiete gehörten zu denjenigen, in denen ethnische Minderheiten, darunter kurdische alevitische Gemeinden, überproportional stark vertreten sind. (Alevit*innen sind eine religiöse Gruppe in Anatolien, die seit langem diskriminiert wird.) Darüber hinaus haben Minority Rights Group, Amnesty International, das Washington Kurdish Institute und andere dokumentiert, dass sowohl die türkische als auch die syrische Regierung während der Hilfsaktionen den Betroffenen in den kurdischen Gebieten Hilfen vorenthalten und sie diskriminiert haben.
„Es hat den Anschein, dass der Wille, die Betroffenen zu schützen und zu versorgen, nicht gleichmäßig vorhanden ist, sei es in Form von Diskriminierung beim Zugang zu Hilfsgütern oder einfach durch das Fehlen jeglicher Hilfsmaßnahmen.“
Minority Rights Group
Die genaue Rolle, die die anti-kurdische Sprachgewalt bei den Zerstörungen durch das Erdbeben gespielt hat, wurde bisher jedoch noch nicht untersucht.
Kurd*innen berichten, dass in Ländern mit großen kurdischen Bevölkerungsgruppen die staatlichen Behörden Unterstützung und öffentliche Sicherheitsmaßnahmen fast ausschließlich auf Türkisch, Persisch oder Arabisch anbieten, obwohl viele Menschen, vor allem Ältere, diese Sprachen nicht verstehen.
2017 erschütterte ein schweres Erdbeben Kermanschah (Kirmaşan, Rojhelat, iranisch-besetztes Kurdistan), ein mehrheitlich kurdischsprachiges Gebiet, wobei mindestens 620 Menschen getötet und mehr als 9.000 in zahlreichen Bezirken der Provinz verletzt wurden. Insgesamt waren 427.266 Menschen in acht Städten und 1.950 ländlichen Gebieten der Provinz Kermanshah betroffen. Nach Angaben des iranischen Roten Halbmonds wurden in ländlichen und städtischen Gebieten mehr als 37.000 Wohneinheiten zwischen 50% und 100% schwer beschädigt.
Gordyaen Jermayi, ein Kurmandschi-Sprecher aus der Stadt Urmia, schildert, dass der iranische Staat nur Dienstleistungen in persischer Sprache anbiete.
„Ich kenne Geschichten von Menschen, die gelitten haben, die verletzt wurden, aber weil sie kein Persisch sprechen oder verstehen, bekamen sie nicht die Unterstützung, die sie brauchten.“
Mariwan, ein in den USA lebender Hewramî-Sprecher mit Wurzeln in der Stadt Sine (Rojhelat, iranisch-besetztes Kurdistan), betont, dass die Menschen gezwungen seien, sich auf lokaler Ebene aufeinander zu verlassen, um zu verstehen, was bei Katastrophen und Krisen vor sich gehe, da „die Mitteilungen der Regierung immer in Farsi [dem Standardpersisch des Iran] übermittelt werden.“
Diese Ungerechtigkeiten wurden bei dem Erdbeben im Februar 2023 erneut deutlich. Laut Amnesty International beschränkte die Regierung in Syrien „den Zugang von Hilfsgütern in Gebiete, deren Bevölkerung als regierungsfeindlich eingestuft wird oder die sich außerhalb der Kontrolle der Regierung befinden“, insbesondere die kurdischen Gebiete, von denen ein Großteil bereits verarmt und auf Hilfen angewiesen ist. Außerdem, „hat die syrische Regierung verhindert, dass Hilfsgüter die überwiegend kurdischen Stadtteile von Aleppo erreichen, welche unter der Kontrolle des kurdischen Zivilrats stehen und von dem Erdbeben besonders stark betroffen waren.“
Respond erhielt in diesem Zeitraum vereinzelte Berichte darüber, dass die Kommunikation über die Katastrophe und die Hilfsmaßnahmen weder in Syrien noch in der Türkei in kurdischer Sprache erfolgte.
„Während des Erdbebens in der Türkei und in Syrien haben wir zum Beispiel mitbekommen, dass viele Menschen keine Hilfe in ihren jeweiligen Dialekten erhalten haben, wobei die meisten dieser Gebiete kurdisch sind“, sagt Dilan*, ein Verfechter von Sprachgerechtigkeit und Sorani-Sprecher aus Bashur, der jetzt im Ausland lebt.
„Wir haben einige Geschichten gehört, dass viele ältere Menschen in ihren Dialekten - Kurmandschi - um Hilfe schrien, aber niemand sie verstehen oder mit ihnen kommunizieren konnte, obwohl doch so viele NGOs da waren, um sie zu retten. Es gab noch immer eine riesige Barriere zwischen ihnen.“
Hêvî*, ein Kurmandschi-Sprecher aus Bakur, erklärt, dass die türkische Regierung türkischen und internationalen NGOs, die mit kurdischen Gemeinden arbeiten, keine Unterstützung in kurdischer Sprache anbiete. Ihm zufolge „stellen die türkischen Behörden ihnen [internationalen Organisationen] keine*n kurdische*n Übersetzer*in oder Dolmetscher*in zur Verfügung! Sie veröffentlichen keine Stellenangebote für kurdischsprachige Menschen.“
„Überlebende von humanitären Katastrophen haben ein Recht auf zeitnahe, sachdienliche, zugängliche und genaue Informationen in einer Sprache, die sie verstehen, ohne Diskriminierung. Diese Informationen können weitere Verluste von Menschenleben verhindern… Überlebenden sollten mindestens Zugang zu zeitnahen Informationen über Verstorbene oder mutmaßlich Verstorbene haben, zu allen verfügbaren Informationen über vermisste Verwandte oder Freund*innen sowie zu konkreten Angaben über die Versorgung mit Nahrungsmitteln, Wasser, Notunterkünften, medizinischer Versorgung, reproduktiver Gesundheit und anderen wichtigen Dienstleistungen.“
Amnesty International
Rojda Arslan, eine in Deutschland lebende Zazakî-Sprecherin, beschreibt die Angst, die kurdischsprachige Menschen in der Türkei, insbesondere ältere Menschen, angesichts dieser Katastrophen und der Reaktion der Regierung empfinden. Sie fürchten, dass sie in Not- und Katastrophenzeiten im Stich gelassen werden, weil sie kein Türkisch sprechen – was sich im Februar 2023 bewahrheitete.
„Es gab viele Frauen, die Angst hatten, auf Kurdisch zu sprechen, um ihr Leben zu retten“, sagt Rojda. „Sie dachten, dass sie vielleicht nicht gerettet werden, wenn sie Kurdisch sprechen.“
Das Fehlen von Informationen in Kurdisch infolge des Erdbebens im Februar war kein Zufall oder ein Missgeschick - für viele, die von Respond befragt wurden, war es ein kalkuliertes Versäumnis.
„In Zeiten von Krisen und Katastrophen ist [das Übersetzen ins Kurdische] nicht nur wichtig - es ist die einzige Möglichkeit, mit ihnen zu kommunizieren… um ihnen genaue Informationen zukommen zu lassen, da sie keine andere Sprache sprechen“, sagt Berivan*, eine Sorani-Sprecherin aus Bashur.
„Während einer Krise keine Informationen auf Kurdisch bereitzustellen, ist in gewisser Weise ein indirektes Verbrechen, da niemand das grundlos tun würde… Man muss ihnen genaue Informationen in ihrer eigenen Sprache zur Verfügung stellen, um sie zu retten.“
Anstatt dass Staaten ihrer Verpflichtung nachkommen, Informationen in kurdischer Sprache zur Verfügung zu stellen, damit große Teile ihrer Bevölkerung Zugang dazu haben, sind einzelne kurdischsprachige Personen stattdessen gezwungen, diese Aufgabe zu übernehmen.
Dilan sagt: „Ich kann übersetzen, ich kann Menschen helfen, wenn sie in eine Naturkatastrophe geraten, oder auch meine Freund*innen und Kolleg*innen, wir können kleine Dinge tun. Aber die Verantwortung liegt nicht in unseren kleinen Händen.“
Diese sprachliche Ungerechtigkeit hat zweifellos dazu beigetragen, dass die Zahl der Todesopfer in den kurdischen Gebieten nach dem Erdbeben so hoch war. Zwar gibt es keine genaue Zahl der kurdischen Opfer, aber die bestätigte Gesamtzahl der Todesopfer beläuft sich auf über 59.000.
*Einige Namen wurden geändert, um die Privatsphäre und die Sicherheit unserer Projektteilnehmenden und ihrer Angehörigen zu schützen. Da mehrere kurdische Namen in ganz Kurdistan von den Besatzungsmächten verboten wurden, weisen wir darauf hin, dass wir uns für die Verwendung von Namen entschieden haben, die verboten sind.